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Die Bedrohung der Eziden durch Selbstzerstörung oder die Anstrengung für eine Identitätsfindung

von Lauffrey Nabo

Zu unserer ethnisch-religiösen und kulturell-politischen Situation in unserer ursprünglichen Heimat führe ich an, dass wir Eziden eine Minderheit der kurdisch sprechenden Glaubensgemeinschaft aus dem Orient (Irak, Syrien, Türkei sowie Armenien und Georgien) sind. Wir wurden Anfang der 80er Jahre wegen der Unterdrückung durch islamische Herrschaftssysteme und ihre Bevölkerungsgruppen gezwungen, aus unseren Siedlungen  nach Europa zu fliehen.

Die überwiegende Mehrheit unserer Ezidi-Familien wohnt in Europa. Für  Muslime sind wir nicht mehr vogelfrei und werden nicht mehr unterdrückt oder verfolgt. Wir stehen nicht mehr schutz- und rechtlos da. Unsere Rettung in die Freiheit verdanken wir Menschen in demokratischen Institutionen, und das ist alles nicht unser Verdienst. Wir haben teilweise die gleichen Chancen und Rechte wie die europäischen Bürger und selbstverständlich auch die gleichen Pflichten und Verantwortungen.

Europa, die neue Heimat, bedeutet eine Chance für unsere kulturell-historische Entfaltung, wenn wir uns daran erinnern, dass unsere Unterdrückung und Verfolgung seit Jahrtausenden zu einer Selbstschutzabkapselung und Tarnung führte. Als Resultat entstand ein Mechanismus psychischer Selbstverbarrikadierung und Flucht in die Isolation. Es hat keinen Sinn mehr, weiterhin mit diesem orientalisch-islamischen Trauma zu leben. Dieser Zustand ist Geschichte und vorbei. Wir sollten uns jetzt bei den Menschen Europas unseren Platz suchen, wenn wir überhaupt eine Zukunftschance haben wollen. Sonst werden wir als Eziden verschwinden, nämlich wie ein Stück Zucker in einem Glas Tee aufgelöst wird.

Das beharrliche Verlangen unserer Glaubensschwestern und –brüder sowie ihr Ruf nach ihren Kulturwurzeln sind unüberhörbar. Der Wunsch und Traum nach Freiheit ist bei den geflohenen Eziden immens groß und gilt auch für unsere Kinder. Wir sind unseren Nachkommen verpflichtet, unseren Kulturreichtum mit allen seinen Möglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Deshalb müssen wir die Türen und Tore unserer Schatzkammer der mündlichen Tradition endlich für unser Volk und für die Welt als ein Kulturerbe der Menschheit öffnen. Unsere mündliche Tradition liefert uns und der Wissenschaft den Beweis unserer Verbindung zur Altbabylonischen Kultur (Vgl. die Namen Schamasch(babyl.) / Scheschams(ezid.); adat, adi,hadad(babyl.) / Scheadi(ezid.); Sin(babyl.)/Schesin(ezid.)), der Wiege der Zivilisation. Deswegen ist und bleibt unsere ezidische Tradition die Hauptgrundlage und das Rückgrat für Forschungen und Publikationen.

Das Verhalten der Muslime und ihr Standpunkt gegenüber unserer Religion ist sehr erstaunlich und gleichzeitig merkwürdig, vor allem aber sehr krass widersprüchlich, wenn die Muslime uns einerseits als ungläubige Teufelsanbeter und Gegner Gottes sowie des Islam brandmarken und andererseits uns als eine vom Islam abgefallene Sekte bezeichnen. Im absoluten Gegensatz zum Islam glauben wir nicht, dass der liebe Hada (d.h. Gott), der Allschöpfer, einen Gegner (Teufel) hat oder haben kann. Wir wenden uns direkt ohne einen Vermittler an Gott.

Wir sind Eziden und unsere Religion heißt Ezidi-Religion. Sie ist die Religion des Taussi Mäläk und wir heißen nicht Jesidi/Yezidi. Unser Ezidi-Name ist im Kodex Hammurabi manifestiert. Wer sich für unsere Kultur-Tradition interessieren will, kann sich darüber ausführlich in Geschichtsbüchern des Alten Orients informieren.

Viele Autoren haben über uns und unsere Religion geschrieben. Die meisten muslimischen Autoren haben uns verleumderisch und negativ in Verbindung mit dem Teufel dargestellt. Solche systematisch kränkenden Kampagnen im Verlauf der langen Zeitspanne seit der islamischen Eroberung bis heute haben uns einer Gehirnwäsche unterzogen und in uns seelisch-kulturelle Narben hinterlassen.

Die Ezidi-Religion wurde durch den Islam unterwandert. Der Unterschied zwischen unserem Glauben und dem der Muslime ist so groß wie der zwischen Himmel und Erde. Unsere Religion ist eine Naturreligion mit vielen Göttern und akzeptiert und respektiert alle anderen Religionen mit ihren Gottheiten und Traditionen. Unser Gott Hada (er, sie, es) bedeutet: Er hat sich selbst erschaffen.

Was bedeutet der arabisch-islamische Allah? Die islamische Religion ist eine Zwangsreligion, die bedingungslose Unterwerfung und die Bekehrung aller Andersgläubigen fordert. So haben wir Eziden den Islam erfahren. Die Zwangsislamisierung in dem sehr unzugänglichen Land Kurdistan war im 7. Jahrhundert offensichtlich für die islamischen Eroberer sehr mühsam, dennoch wurden wir Eziden stark dezimiert. Im 9. und 10. Jahrhundert folgte eine Flüchtlingswelle der muslimischen Sufis in unser Gebiet, ausgelöst durch die Verfolgung der Zentralmacht in Bagdad. Sie fanden bei uns Eziden Schutz und Sicherheit. Wie, wann und mit welchen Mitteln die islamischen Sufis in der Lage waren, unsere religiösen Traditionen zu unterwandern, ist unklar. Es gelang ihnen scheinbar lautlos, uns zu beeinflussen und  uns in religiöse Gruppierungen zu spalten. Die Folge ist eine Irrung und Wirrung, so dass einige Eziden versucht haben, sich in den Schoß der Zarathustra-Religion zu retten. Andere haben sich mit dem Mithraismus abgefunden. In Wahrheit sind beide Richtungen falsch und können sich nicht auf Fundamente unserer mündlichen Tradition stützen. Die Namen Zarathustra und Mithra tauchen in unserer mündlichen Überlieferung überhaupt nicht auf.

Nun ist das geheimnisvolle Rätsel der arabisch-islamischen Religionseinflussnahme durch einen Text der Sufis aus dem 15. Jahrhundert im Britischen Museum in London gelöst:

“Einer von den Engeln heißt Gabriel. Er ist der Bevollmächtigte der Offenbarung und Bewahrer von Jerusalem, man nennt ihn auch der vertraute Geist und der Heilige Geist und das große Gesetz (d.h. die Scharia) und Taus  der Engel (d.h. Chef der Engel)”. Da die Sufis auch Verehrer von Taussi-Mäläk sind, haben sie Taussi-Mäläk als Engel Gabriel dargestellt und den Engel Gabriel Taussi-Mäläk genannt. So konnten sie das Vertrauen der Eziden gewinnen und sich in deren Gesellschaft einführen.

Ein zusätzlicher Einfluss auf die Ezidi-Religion wurde von dem Mystiker Scheich Adi Bin Mussafer und seinem Neffen Scheich Hassan ausgeübt. Es ist ganz richtig und normal, dass wir Eziden Sche-Adi und nicht Scheich Adi sowie Sche-Sin und nicht Scheich Hassan in unseren Gebeten und Hymnen lobpreisen und ansprechen. Denn Sche-Adi und Sche-Sin sind Götternamen sowohl bei uns als auch in der sumero-babylonischen Kulturreligion, und das ist ein Beweis für unsere lange Geschichte in Mesopotamien. Aber es ist auch eine Tatsache, dass die Namen der arabisch-islamischen Mystiker Scheich Adi und seines Neffen Scheich Hassan in unserer Religion verankert worden sind. Nach arabischen Geschichtsquellen sind diese Mystiker arabischer Herkunft vom Stamm der Umaiyaden-Dynastie.

Unsere Religionshäupter berufen sich in aller Deutlichkeit auf ihre Abstammung von den arabischen Umaiyaden. Unsere mündliche Tradition ist mit arabisch-islamischen Namen für bedeutende Persönlichkeiten vermischt. Auch unser Heiligtum Lalisch ist eine kleine Kopie von Mekka und Umgebung. Solche Tatsachen verwirren viele Eziden und werfen Fragen nach der Echtheit unserer Religion auf. Wer sind wir? Was sind wir?

Unbestreitbar sind wir Eziden fast bis zur Unkenntlichkeit von der arabisch-islamischen Religion unterwandert und beeinflusst worden. Das ist eine Tatsache. Und es ist kein Wunder, dass wir tief beeinflusst wurden, denn wir leben seit etwa 1400 Jahren unter der arabisch-islamischen Kulturherrschaft. Trotzdem haben wir unsere Wurzeln niemals verloren. Grund dafür ist, dass unser Kulturschatz unter dem Boden unserer Heimat in Form von Keilschrifttexten und Denkmalgattungen bewahrt liegt. Was ausgegraben worden ist, können wir lesen und uns aneignen. Nicht zuletzt können wir endlich unsere Geschichte, Gebete und Hymnen wieder beleben und erleben. Nutzen wir jetzt unsere Chance in der Freiheit Europas.

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