von Dr. Lutz Brade
Jahrtausende alte Quellen belegen, dass Konflikte zwischen zerstrittenen Parteien durch Gewaltanwendung häufig nicht zufriedenstellend gelöst werden. Die Sieger bekommen die unwägbaren Konsequenzen ihrer Handlungen zu spüren und die Unterlegenen akzeptieren die für sie eingetretene Situation normalerweise nicht.
Spätestens mit der Sesshaftigkeit von Menschen wurde Gewalt zwischen Personen zur Konfliktbewältigung als ein untaugliches Mittel erkannt. Zu ihrer Vermeidung wurden z.B. in den Regionen des Zweistromlandes Regelsysteme eingeführt, mit denen durch möglichst überparteiliche Richter Streitfälle geklärt werden sollten. Durch den Codex Hammurabi (CH), ca. 1700vuZ) wissen wir von den Sumerern, dass sie in ihren Rechtssätzen bereits in ein Straf- und Zivilrecht unterschieden. Das Gesetzeswerk entstand in einer Zeit, in der der Altbabylonier Hammurabi (ca. 1750-ca.1683) den geographischen Raum vom Persischen Golf zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris bis fast an die Mittelmeerküste politisch zu einem Herrschaftsgebiet vereinte und ein einheitliches Recht verfügte. In den Gesetzen wurden vorrangig der Schutz jedes frei geborenen Menschen vor Formen der Gewalt und die Pflicht der Fürsorge für Arme, Schwache, Kranke, Witwen, Waisen (Vgl. CH §§148f), Schwangere (Vgl. CH §§209f), die Existenzsicherung von Arbeitnehmern (Vgl. CH §§272-277) und den Fremden (Vgl. CH §§100-107) betont. “Ich, Hammurabi…war für die Untertanen, die mir der Gott Enlil anvertraute…nicht säumig… Friedliche Stätten schuf ich ihnen, drückende Nöte hielt ich fern und erleichterte ihnen das Leben…, schuf dem Lande Wohlfahrt, schenkte den Menschen friedliches Wohnen und ließ keinen mehr über sie kommen, der sie bedrängte… Ich behüte sie in meinem Frieden und beschirme sie in meiner Weisheit. Auf dass der Starke den Schwachen nicht bedrücke, der Witwe und Waise ihr Recht werde…” (Für eine gerechte Welt, S.17)
In Kriegen gefangene Kinder, Frauen und Männer wurden ihrer Freiheit beraubt und zu Sklaven gemacht, die ohne Rechte waren und wie Gegenstände behandelt werden konnten (Vgl. CH §§278-282).
In den 282 Paragraphen des CH werden jedem frei geborenen Menschen unveräußerliche Rechte wie das Recht auf Leben zugebilligt, weil nach Auffassung der Sumerer von den Göttern alles Leben stammt und deshalb von Menschen nicht vernichtet werden darf. Kapitalverbrechen wurden nach dem CH und nach altem jüdischem Recht schwer bestraft. Es galt das Vergeltungsprinzip ”Leben um Leben, Auge um Auge, Zahn um Zahn…” (Vgl. CH §§1-5;195-198; Ex21,22-27; Lev24,17-23). Beide Rechtssysteme schlossen die juristische Selbsthilfe aus (Vgl. Ex18,13-27; Lev19,17f; Num35,9-13; Dtn1,16-18;16,18-20). Vor einem möglichst unabhängigen Gericht mussten die Täterin/der Täter angeklagt und verurteilt werden. Zur Vermeidung von Rache und Lynchjustiz konnte im Judentum von einer/einem Tatverdächtigen bei dem Vorwurf von vorsätzlichem (Vgl. Num35,6-29) und unbeabsichtigtem Totschlag (Vgl. Ex21,12-14; Dtn4,41-43; 19,1-13; Jos20,1-9) eine Asylstadt aufgesucht werden, in der die/der Beschuldigte über den Abschluss eines Gerichtsverfahrens hinaus vor Zugriffen geschützt war. Anders als bei den Sumerern wurde im Judentum die Todesstrafe selten vollstreckt. In über Generationen betriebenen Studien der Rechtsliteratur sowie durch Disputationen zog die Mehrzahl jüdischer Schriftgelehrter der Todesstrafe eine Ersatzleistungsregulierung vor und lehnte das Vergeltungsprinzip ab. Die Begründung lautete: “Gott vergilt selber den Frevlern entsprechend ihren Taten” (Der Talmud, S. 364, Anm. 635; vgl. S. 333-342 und S. 363f). Auch Jesus von Nazaret vertrat diese Position (Vgl. Mt5,21-26.38-42), die ebenso im Koran (Vgl. Sure 2,173-175; 4,94f) und in weiteren Religionen (Vgl. Der Kleine Pauly, Bd.1, Sp. 670f) gefunden wird. Für das Yezidentum fehlen einschlägige Quellen mit Regelungen bei dem Tatbestand von Kapitalverbrechen. Nach mündlichen Überlieferungen und in Publikationen wird darauf hingewiesen, dass jeder Yezide nach seinen ‚guten‘ Taten beurteilt wird, Toleranz und Respekt Menschen anderer Ethnien entgegen bringen möge und die Gesetze des Gastlandes akzeptieren solle. Grundsätze für Rechtsauffassungen könnten im Yezidentum aus tradierten Schöpfungstheologien, Kosmogonien und dem Menschenbild abgeleitet werden.
Die Verneinung des Vergeltungsprinzips im Juden-, dann Christentum, Islam und in anderen Religionen geht auf Schöpfungsmythologien zurück. So wird z.B. im Judentum überliefert, dass Leben in seinen verschiedenen Erscheinungsformen geschaffen wurde. Jeden Menschen zeichnet eine einmalige und unverwechselbare Individualität aus. Sie verdankt ‚IHM‘ das Recht zu leben und nur ‚ER‘ kann über sie verfügen. Nach dieser Auffassung sind alle Menschen ohne Ansehen der Person vor Gott gleich. Jede Person ist für eine andere Person unantastbar und darf in keiner Weise von anderen Personen verletzt werden (Vgl. Ex20; Dtn5). In dieses göttliche Recht waren Freie sowie Unfreie und Fremde eingeschlossen, wenn es z.B. heißt, dass ihnen ein wöchentlicher Ruhetag (Vgl. Ex20,9-11) und Sklaven zumindest in eingeschränkter Form die Gleichbehandlung durch Gesetze zustand (Vgl. Ex21,26f; Lev19,33f; 25,35-37; Dtn5,13-15). Allen Lebensformen ist ‚ER‘ zugewandt. Der Mensch als Gattung ist beauftragt, für die gesamte Kreatur zu sorgen (Vgl. Gen1,26-31) und kann sein Dasein wegen seines Vermögens zwischen richtig und falsch zu unterscheiden an den göttlichen Rechtsnormen orientieren, nach denen das Leben und die Würde jedes Menschen nicht verhandelbar sind, wie in der Erzählung ‚Die Mischna der Frommen‘ berichtet wird: Ein Fremder hatte sich vor den ‚Häschern des Königreichs‘ in eine Stadt gerettet und war vom Rabbi verborgen worden. Die Verfolger verlangten die Auslieferung des Mannes. Andernfalls drohten sie, die Einwohner umzubringen. Der Rabbi prüfte die Situation und kam zu dem Schluss, den Flüchtling auszuliefern: “Wo das Leben vieler in Gefahr steht, darf der Angeklagte ausgeliefert werden” (In deinen Toren Jerusalem, S.73). Für diese Entscheidung wurde er von dem Propheten Elia getadelt: “Warum warst du nicht eingedenk der Mischna der Frommen, die allein in den Herzen der Gerechten geschrieben steht? Bist du darum ein Gerechter ohne Fehl, daß du an den Buchstaben der Vorschrift dich klammerst? Siehe, in der bittersten Not helfen nicht die Meister der Lehre, weder die vorher waren, noch die nachher sein werden, da bist du mit Gott allein und mußt vor ihm erleiden die menschliche Nichtigkeit bis auf den Grund. Wehe dir, daß du geflüchtet bist zu irdischer Hilfe und hast Gottes Angesicht nicht ertragen!” (aaO, S. 75).
Bereits vor der Begegnung mit Elia wusste der Rabbi, dass er mit der Auslieferung des Flüchtlings eine falsche Entscheidung getroffen hatte. Weshalb sonst hätte er weiter in den Schriften nach einer Antwort gesucht? Er musste zugeben, dass er das Tabu von der Unantastbarkeit des Lebens und der Würde eines Menschen gebrochen hatte.
In der Mehrzahl der gegenwärtigen Staaten gilt nationales, von Menschen gemachtes, sog. positives Recht. Es soll seit der ‚Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‘ (AEMR) von 1948, der ‚Die Europäische Menschenrechtskonvention‘ (EMRK) von 1950 sowie weiteren Dokumenten internationalem Recht untergeordnet und verbindlich sein. Als Erklärung gekennzeichnet bleibt die AEMR der Freiwilligkeit überlassen und kann von den Funktionären eines Staates aus politischen, ökonomischen und sonstigen Interessen interpretiert und manipuliert werden. Diese Tendenz wird z.B. in Staaten der EU beobachtet, wenn Flüchtlingen die Menschenrechte auf Leben, Würde und Freiheit verweigert und sie wie Herr Reso Nasirov in die Herkunftsländer zurück gebracht werden. Zu der gegen seinen Willen erfolgten Rückführung nach Georgien haben Yeziden in Deutschland den folgenden Text verfasst. Er wurde in russischer Sprache geschrieben, von mehr als sechzig Yeziden unterzeichnet, ins Deutsche übersetzt und an Behörden geschickt: “Wir Yeziden aus Georgien, die in Deutschland wohnen, informieren sie über häufige Menschenrechtsverletzungen staatlicher Organe in Tiflis, die eigentlich zuständig sind, die Menschenrechte zu schützen.
Wie viele andere Yeziden wurde Reso Nasirov, geb. am 04.03.1963, mit Ehefrau und Sohn gezwungen, sein Haus und die Gräber seiner Eltern und Verwandten zu verlassen. 1995 bat er in Deutschland um Asyl.
In der Stadt Altenkirchen in Deutschland haben sie 1997 eine Tochter bekommen. 1998 wurde die Familie Nasirov von der ZAB (Zentrale Ausländerbehörde) nach Georgien deportiert. Dort erwartete ihn (Herrn N.) der Tod in Form von Gewalt, Schlägen, Verhöhnung und Beschimpfung. Die Polizisten des Bezirks Tschugureti (Stadt Tiflis) hatten erfahren, dass die Familie aus Deutschland zurück gekommen war. Sie fingen an, die Familie zu verfolgen. Am 05.07.03 haben Verwandte der Familie N. aus Tiflis uns, die Yeziden aus Deutschland, über die bestialische Ermordung von Reso Nasirov durch die Polizei des Bezirks Tschugureti informiert. Das ist wieder ein Beispiel von vielen anderen für die Selbstjustiz durch staatliche Georgische Organe gegenüber Yeziden.
Wir Yeziden in Deutschland bitten die Mitglieder aller europäischen Länder: Lassen sie nicht zu, dass das Yezidische Volk, Angehörige einer ethnischen und religiösen Gruppe, allmählich untergeht, und schützen sie, bitte, ein kleines Volk mit einer uralten Tradition.” (10.07.2003)
Seit Tausenden von Jahren erheben Menschen die Forderung nach der Durchsetzung von Menschenrechten. Betreffend den Schutz des Lebens und der Würde des Menschen werden in Deutschland und anderen Ländern gravierende Defizite festgestellt. Die Hoffnung auf die Reduzierung von Mängeln durch das Zuwanderungsgesetz und die folgenden Ergänzungsbestimmungen wurde nicht erfüllt. Das Beispiel von der Ausweisung einer vierköpfigen integrierten und seit 1998 in Deutschland lebenden Familie (Vgl. P. Pröter, Familienbande stärker als Vernunft, in: Neue Westfälische vom 20.05.2009) belegt die Fortsetzung einer Flüchtlings- und Asylpolitik, die nachdrücklich von dem Menschenrechtskommissar des Europarats beanstandet wurde (Vgl. Pro Asyl, Presseerklärung vom 06.08.2007: Der Menschenrechtskommissar des Europarats kritisiert die deutsche Ausländer- und Asylpolitik massiv).
Zu Problematiken um das positive Recht verweise ich auf ein Wort von R. Tagore: “Der König sagt: ‚Immer neue Regeln schaffend, erschaffe ich das Recht.‘ Sagt das Recht: ‚Uralt bin ich – wer hätt‘ mich je geboren. Was du neu erschaffst, ist das Unrecht bloß.‘ (Auf des Funkens Spitzen, Nr. 43).
Literaturangaben
Bibel in gerechter Sprache, hg.v. U. Bail/F. Crüsemann u.a., Gütersloh 2006
Der Kleine Pauly, hg.v. K. Ziegler/W. Sontheimer, Bd.1, Sp.670f, Stichwörter Asylia und Asylon, München 1979
Der Koran, Übersetzung von M. Henning, Leipzig 1989, 7. A.
Der Talmud, hg.v. R. Mayer, München 1983, 6. A.
Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart 1980
Drewermann, E., Der tödliche Fortschritt, , Freiburg 1991
Fritzsche, K.P., Menschenrechte, Paderborn 2004
Heer, F./Freitag, S./Günther, K., Für eine gerechte Welt. Große Dokumente der Menschheit, Darmstadt 2004
In deinen Toren Jerusalem. Jüdische Legenden, nacherzählt von E. Schubert-Christaller, Heilbronn 1929
Jonas, H., Das Prinzip Verantwortung, Frankfurt/M 1984
Kantorowicz, H., Der Begriff des Rechts, Göttingen 1957
Tagore, R., Auf des Funkens Spitzen, München 1989
Westermann, C., Genesis. Kapitel 1-11. Biblischer Kommentar Altes Testament, Neukirchen-Vluyn 1976, 2. A.