von Dr. Lutz Brade
Wenn ich den Prozess zur Entstehung der Ezidischen Akademie ein wenig verstanden habe, führte zu ihrer Gründung eine Vielzahl von Überlegungen.
Mit der Islamisierung des Herkunftsgebietes der Eziden, des Zweistromlandes, begannen für sie über Jahrhunderte Phasen von Diskriminierung, von Unterdrückung und Ausgrenzung, soweit sie nicht zum Islam konvertierten. Sie mussten Einschränkungen an Freiheit und Rechten hinnehmen und wurden gettoisiert.
Mit dem Ende des Osmanischen Reiches ereilte sie im Zusammenhang des Genozids an den Armeniern Verfolgung und Vernichtung. Eziden verließen ihre Heimat und flohen in den Kaukasus. Durch die politischen Konstellationen während des 1. Weltkrieges und danach wurden die Ezidische Gemeinschaft zerschlagen, zerstreut und ihre Kontakte untereinander unterbrochen. In den sozialistischen Republiken der UdSSR Armenien und Georgien entwickelten die isolierten Ezidischen Gemeinden ein Eigenleben. Sie erfuhren ab den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts als Ethnie und Religionsgemeinschaft Erleichterungen. In beiden Republiken traten mit der Auflösung der UdSSR und der Konstituierung der souveränen Staaten Armenien und Georgien Probleme auf, durch die sie bis auf eine kleine Gruppe von Zurückgebliebenen zu erneuter Wanderschaft gezwungen wurden. Aufnahme fanden sie in Russland. Die Mehrzahl von ihnen kam in Staaten der EU. Willkommen waren sie nicht. Schwierigkeiten entstanden ihnen besonders in Deutschland. Hier sind Eziden aus den zwei genannten Regionen bis in die Gegenwart von Ausweisung bedroht.
Den nach dem 1. Weltkrieg etablierten Türkischen Staat verließen Eziden als ‚Gastarbeiter‘ ab den 60er und wegen Menschenrechtsverletzungen in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Vergleichbar der Situation in Georgien leben in der Türkei heute fast keine Eziden. Sie, die aus der Türkei geflohenen Menschen, erhielten durch die Bemühungen von einzelnen Personen, von NGO’s, Mitgliedern der Theologischen Fakultät in Kooperation mit der GfbV in Göttingen, dem damaligen IM von NRW und Juristen in Hannover ein Bleiberecht. Die Lösung für die Eziden aus der Türkei kam zustande, weil Politiker und Juristen bereit waren, sich über die Lage der Eziden in der Türkei ‚sachkundig‘ zu machen und als Entscheidungsgrundlage internationales und nationales Recht heranzogen. Die Eziden aus der Türkei haben sich in Deutschland überwiegend in den Bundesländern Niedersachsen und Nordrheinwestfalen niedergelassen. Zusammen mit den Eziden in weiteren Bundesländern leben unter uns ca. 30000 bis 40000 Menschen dieser Ethnie und Religionsgemeinschaft.
Den größten Ezidischen Bevölkerungsanteil von geschätzten 300000 bis 400000 Menschen finden wir im Nordirak im geographischen Raum Mosul mit dem zentralen Ezidischen Heiligtum in Lalisch, das außerhalb der autonomen Region Kurdistan liegt, in dessen Grenzen Eziden als Minderheit anerkannt und geschützt sind.
Wie im Irak, ausgenommen die autonome Region Kurdistan, erfahren Eziden im Nachbarstaat Syrien Menschenrechtsverletzungen, die besonders ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zur Flucht führen. In Deutschland gestellte Asylanträge werden bis in die Gegenwart häufig abgelehnt.
Die Mehrzahl der erdweit zerstreuten Eziden lebt gegenwärtig außerhalb ihrer ursprünglichen Heimat. Viele von ihnen sind entwurzelt, leiden an Traumata und werden von Gegenwarts- und Zukunftsängsten geplagt. Sie werden von Staatsorganen im Stich gelassen, in denen als Primat politischen Handelns die Maßstäbe gelten sollten, die von den säkularen Staaten mit ‚Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte‘ (AEMR) von 1948 beschlossen wurden. Eziden erleben mit Flüchtlingen aus vielen Regionen der Erde eine Politik, die von ökonomischen Erwägungen, militärischen Interessen und Ambitionen einer Vormachtstellung westlicher Staaten gespeist wird.
Die Ezidische Akademie kann nicht die Erde ersetzen, auf der Eziden ursprünglich wohnten, Landwirtschaft betrieben, ihre Tiere weideten und anderen Tätigkeiten nachgingen. Sie kann den Verlust der ursprünglichen und verloren gegangenen Ezidischen Identität nicht rückgängig machen. Aber die Ezidische Akademie kann eine veränderte, den Ezidischen Traditionen angemessene und auf die gesellschaftlichen Bedingungen in der Diaspora zugeschnittene Identität anbahnen helfen. Für dieses Vorhaben sprechen in der Satzung der Ezidischen Akademie Formulierungen, von denen ich einige auswähle:
Die Ezidische Akademie ist an keine Ideologie gebunden.
Nach der Satzung der Ezidischen Akademie sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Sie können für Funktionen kandidieren und gewählt werden. Ohne Unterschied haben sie Anspruch auf Bildung und Selbstbestimmung. Sie sind berechtigt, innerhalb und außerhalb der Räumlichkeiten der Akademie zu lernen und zu lehren. Die Geschlechter begegnen sich als Partner und nicht nach einem hierarchischen System.
Bedingt durch die Diasporaerfahrungen und –entwicklungen will die Ezidische Akademie die Mitglieder unterschiedlicher Strömungen und teilweise konkurrierender Gruppierungen zusammen bringen und den Austausch unter ihnen initiieren. Mit Hilfe von Forschungen zur Geschichte und Religion des Ezidentums sollen Gemeinsamkeiten des Glaubens, von Riten und Bräuchen eruiert werden. Kontroverse Aspekte sollen nicht unterdrückt oder gar eliminiert werden.
Es geht der Ezidischen Akademie um die Dokumentation der Ursprünge des Ezidentums, seiner Entfaltungen bis in die Gegenwart und der Gestaltung von Zukunftsperspektiven.
Die Ezidische Akademie als Lern- und Kommunikationsort will die Kenntnisse über das Ezidentum vertiefen, sie der Öffentlichkeit vorstellen und Kontakte zu Institutionen, Gruppierungen und Personen der Gesellschaft herstellen.
Minderheiten, das wussten mit geschichtlichen Abläufen vertraute Vertreter geistlicher und weltlicher Obrigkeiten, bedeuten keine Belastung für einen Staat. Minderheiten bereichern z.B. durch alternative Vorstellungen und ihre gesellschaftlichen Strukturen das Gemeinwesen des Gastlandes. Leider werden die Erkenntnisse viel zu wenig genutzt, dass Deutschland seit der Existenz von schriftlichen Zeugnissen ein Durchgangs-, Auswanderungs- und Zuwanderungsland war/ ist.
Das Ezidentum überliefert ein Menschenbild wie im Juden-, Christentum und Islam. Die Auffassung vom Menschen ist eine allen Eziden gemeinsame Überzeugung und fordert von jedem Eziden vorrangig, Leben nicht anzutasten, die Einmaligkeit eines jeden Menschen zu achten, Toleranz zu üben, Frieden zu stiften, das Wohlergehen der gesamten Kreatur anzustreben und die jedem Menschen gegebenen Fähigkeiten zu fördern und zu nutzen. Durch die Realisierung dieser beständigen und sinnstiftenden Werte kann ein Mensch Identität erlangen und als Individuum wie alsTeil einer Gemeinschaft in einer Gesellschaft konstruktiv wirken. Dem genannten Menschenbild ist die Ezidische Akademie verpflichtet.