Die Ziele halte ich für begrüßenswert, obwohl bei der Interviewlektüre Fragen aufkamen, wenn es z.B. heißt: “In Deutschland leben nur etwa 60000 Jesiden.” Dieser Angabe steht die Schätzung von 25 – maximal 40000 Eziden in Deutschland entgegen. Die divergierenden Angaben zur Gesamtzahl der Eziden in Deutschland sollten überprüft, verifiziert und spezifiziert werden. Denn in unserem Land wohnen Eziden aus dem Irak, Iran, Syrien und den Kaukasischen Staaten Armenien und Georgien, von wo sie besonders ab den 90er Jahren des 20.Jh.‘s flohen und sich häufig mit ‚Duldungen‘ in Deutschland aufhalten müssen. Zu diesen Menschen ohne einen Aufenthaltsstatus kommen die Eziden aus der Türkei, die zahlenmäßig stärkste Gruppe, von der Frau Wunn in dem Interview sagt: “…In den 80er Jahren kamen viele Jesiden als Flüchtlinge und Arbeitsmigranten nach Deutschland, weil sie in der Türkei verfolgt und unterdrückt wurden.” Richtig ist, dass die ersten Eziden die Türkei als ‚Gastarbeiter‘ in den 60er Jahren verließen. In den 80er Jahren flohen sie und erhielten als Ethnie und Religionsgemeinschaft ein dauerhaftes Bleiberecht in NRW 1989 und in Niedersachsen 1990. Gemäß ihrem Rechtsstatus unterlagen sie keiner Residenzpflicht und keinem Arbeitsverbot. Sie wurden nicht dauerhaft in Asylbewerberunterkünften untergebracht und nicht von der Mehrheitsbevölkerung isoliert. Sie konnten ihre Kinder in Kindergärten und Schulen schicken. Die Jugendlichen durften eine Ausbildung machen und studieren. Ein Teil der Eziden aus der Türkei konnte sich relativ schnell in der deutschen Gesellschaft orientieren.
Für kontraproduktiv halte ich die Formulierung in dem Interview: “Bei den Jesiden gilt ein Kastensystem, ähnlich dem der Inder…” (Vgl. I. Wunn, Yezidentum in Deutschland, in: Zeitschrift der Ezidischen Akademie 3, 2009, S.9f). Mit einer derartigen Charakterisierung wird die Ablehnung der Eziden provoziert und diese Charakterisierung trifft auch nicht zu, weil die sozial-religiöse Gliederung bei den Eziden in Murids, Pirs und Scheichs weder Ausgrenzung und Diskriminierung von Angehörigen der Gemeinschaft kennt und die sozial-religiöse Gliederung bei den Eziden als eine Differenzierung von Aufgaben und Funktionen zu verstehen ist. Die bisher angesprochenen Unstimmigkeiten können durch entsprechende Recherchen, vorliegende Erkenntnisse sowie durch Diskurse ausgeräumt und sollten wegen des Renommees der Eziden in Deutschland geklärt werden.
Schwieriger als mit den gen. Aspekten steht es mit dem folgenden Interviewabschnitt:
Interviewerin (I): “Kann ein Außenstehender zum jesidischen Glauben übertreten?
Wunn: Nein, man kann nur als Jeside geboren werden. Auch eine Heirat ermöglicht den Eintritt nicht. Jesiden dürfen nur untereinander heiraten. Wer sich außerhalb der Gruppe bindet, wird ausgeschlossen.
I: Viele Menschen begegnen Traditionen wie diesen mit Ablehnung und Furcht.
Wunn: Weil viele gleich an Ehrenmorde und Blutfehden denkt (Red.: denken). Diese Vorfälle passieren aber nicht aufgrund des Glaubens.
I: Sondern?
Wunn: Das ist ein verbreitetes Migranten-Problem: Die erste Generation kommt in ein fremdes Land und führt dort das Leben weiter, das sie vorher geführt hat. Die zweite Generation gerät in Konflikt mit den zwei Welten, in denen sie lebt und stellt die Identitätsfrage. Die Antwort liegt meist in einer sehr unreflektierten Betonung der mitgebrachten Werte, die dann zu starren Dogmen werden. Die dritte Generation bäumt sich dagegen auf. Die Gewalt geht aber nicht vom Glauben aus.” Für einen auf Informationen bedachten Leser stehen die Äußerungen isoliert da und könnten doch leicht mit dem Hinweis erläutert werden, dass Eziden wie Juden, Christen und Moslems an einen Gott glauben, den Schöpfer auch des Menschen, dem als Geschöpf Leben zu eliminieren untersagt ist. Durch diesen Glaubenssatz sowie der mit ihm verbundenen Ethik akzeptieren und praktizieren Eziden Werte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und im Grundgesetz der BRD verankert sind. Mit Bezug auf ihren Glauben und ihr Wertesystem wird Blutrache ausgeschlossen, die, wenn Eziden als Ethnie und Religionsgemeinschaft in sumerischer Zeit in ihrer Heimat Mesopotamien über historische Quellen identifiziert werden könnten, z. B. durch den Codex Hammurabi verboten war.
Ohne Erläuterungen stoßen Auskünfte zu Eziden “…man kann nur als Jeside geboren werden” und “Jesiden dürfen nur untereinander heiraten. Wer sich außerhalb der Gruppe bindet, wird ausgeschlossen” auf Unverständnis. Mit dem Satz “Ein Jeside kann nur als Jeside geboren werden”, so könnte erklärt werden, wird nicht auf den Anspruch von Exklusivität im Sinne einer vor anderen Völkern auserwählten Ethnie abgehoben, sondern es könnte vermittelt werden, dass in einer Umgebung intensiver Missionierungsversuche etwa durch den Islam sowie zusätzlicher Belastungen der Prozess einer Ezidischen Ethnogenese vollzogen wurde, zu der z.B. die Endogamie gehörte , deren Verweigerung zum Ausschluss aus der Gemeinschaft führte. Heiraten innerhalb eines sozialen Verbandes wurden im 2-Stromland begünstigt (Vgl. Colpe, S. 284f) und stellen daher kein Ezidisches Spezifikum dar.
Die Selbstbezeichnung Ezide/Yezide, die Feststellung von Heirats-/Ausschlussregeln, die Ethnogenese, genannte und weitere Bräuche können als Ergebnisse historischer Prozesse in Verbindung mit politischen sowie sozialen Gegebenheiten verstanden werden, die, weil sie von Menschen veranlasst werden, von ihnen variiert werden können. Sie korrespondieren mit der zentralen Glaubensaussage an den Einen Gott, die Schöpferkraft, die wie im Juden-, Christentum und Islam die zeitlose Konstante bleibt und durch die jedem Menschen der Platz als Teil der Evolution durch die Wahrnehmung von Verantwortung für die gesamte Kreatur/Natur zugewiesen ist.
Die wissenschaftliche Erforschung des Ezidentums bei dem Eingeständnis begrenzter menschlicher Erkenntnismöglichkeiten kann zu einer enormen, dauerhaften Horizonterweiterung und muss keineswegs zu Resultaten führen, wie I. Wunn schreibt: “… die vergeistigte Religion wird auf der Basis ihrer Schriften eine Glaubenslehre entwickeln, die von Spezialisten, diesmal aber von ausgebildeten Spezialisten vermittelt wird, deren Lehrtätigkeit wiederum letztlich von einer religiösen Organisation kontrolliert werden muss.” I. Wunn, Yezidentum in Deutschland, a.a.O., S. 11). Aber, das ist zu bedenken, die Herrschaft von und die Bevormundung durch Religionsfunktionäre dürfte auf Widerstand stoßen, wie am Zustand christlicher Kirchen festgestellt werden kann.
Ackermann, A., Yeziden in Deutschland – Von der Minderheit zur Diaspora, in: Paideuma – Mitteilungen zur Kulturkunde 49 (2003), S. 157 – 177
Benninghaus, R., Friedhöfe als Quellen für Fragen des Kulturwandels: Grabkultur von Yeziden und Aleviten in Deutschland mit Seitenblick auf die Türkei, in: Langer, R./Motika, R./Ursinus, M. (Hrsg.), Migration und Ritualtransfer: Religiöse Praxis der Aleviten, Jesiden und Nusairier zwischen Vorderem Orient und Westeuropa, Frankfurt/M 2005, S. 247 – 288
Colpe, C., Konsens, Diskretion, Rivalität: Aus der Ethnohistorie von Kurden und Yeziden, in: Borck, C./Savelsberg, E./Hajo, S.(Hrsg.): Ethnizität, Nationalismus, Religion und Politik in Kurdistan, Münster 1997, S. 279 – 300
Wunn, I., Gewalt geht nicht vom Glauben aus, in: Neue Westfälische vom 11.07.2009
Wunn, I., Yezidentum in Deutschland – eine ethnische Religion im Wandel, in: Zeitschrift der Ezidischen Akademie 3, Hannover 2009, S. 8 – 11